Spanien

Heute sind wir mutig

Die wilde, salzige Meerluft zerrt an meinen Haaren, unter uns spritzt die Gischt an den Felsen, ein paar Angler stehen auf den Klippen und die untergehende Sonne taucht die Vulkanberge in der Ferne in ein goldenes Licht. Ich atme tief aus und lasse meinen Blick lange über das offene Meer schweifen. Wahnsinn.

„Was hältst du davon, noch einmal länger zu verreisen. In einem anderen Land leben, eine neue Sprache lernen, eine andere Kultur erleben…?“, vor etwa einem Jahr habe ich Rafi meine alles entscheidende Frage gestellt. Sozusagen meine Gretchenfrage. „Wie hältst du es mit dem Reisen.“ Für manche mag das eine relativ banale Frage sein. Für mich nicht. Denn ich kann noch nicht ankommen, ohne immer wieder weg zu sein. Ich kann noch kein Nest bauen, ohne diese Welt erlebt zu haben, ohne die Sonne an den verschiedensten Ozeanen untergehen gesehen zu haben. Ohne mir den Sternenhimmel aus allen Winkeln dieses Planeten genau beschaut zu haben.

Was für andere ein eigenes Haus ist, ein großer Garten, ein Kind oder ein Hund, das ist für mich gerade in diesem Moment der salzige Wind in meinen Haaren, die Sonne die meine Nase kitzelt, der warme Sand unter meinen Füßen und das rauschen des Meeres in meinen Ohren.

„Wenn du erstmal arbeitest, dann sieht die Welt ganz anders aus. Du wirst nicht immer reisen können! Das geht einfach nicht.“, haben mir meine Mitmenschen nach dem Studium erklärt. Und ich hab genickt. Weil das eben so läuft, oder? Dann sucht man sich einen Job mit netten Kolleginnen und Kollegen, mietet sich eine feine Wohnung, arbeitet 9 to 5, danach ein Feierabendbierchen und ne gute Serie. Gesagt, getan.

Doch statt meinen Alltagstrott zu finden, hat sich in mir eine Leere ausgebreitet, die ich noch nie erlebt habe. Eine Unruhe, eine Traurigkeit und Frustration. Frustration darüber, warum mich das alles nicht genauso zufrieden und glücklich macht, wie alle um mich herum. Bin ich falsch? Was stimmt denn nicht mit mir? Ich muss doch funktionieren und ein fleißiger Teil dieser Gesellschaft werden. Immerhin macht man das doch so?

Die Monate sind vergangen, aus Frühling wurde Sommer, wurde Herbst und Winter und während danach die ersten Blumen wieder gewachsen sind, ist es in mir drin weiter verdammt dunkel geblieben. Also haben wir den Entschluss gefasst, unser Leben umzukrempeln. Ins kalte Wasser zu springen. Und uns als digitale Nomaden zu versuchen. „Bist du bescheuert, du hast doch einen sicheren, tollen Job!“, ja schon. Aber was bringt mir alles Geld der Welt, wenn mein Herz nicht mehr zerplatzt vor Freude, kaum begreifen kann wie unfassbar schön dieser blaue Planet ist und wie quirlig hibbelig sich richtiges Glücklichsein anfühlt.

Wir haben also unsere wunderschöne, kleine Altbauwohnung mit der tollsten Hausgemeinschaft mittem im Martinsviertel gekündigt, ich habe mich selbstständig gemacht (ach du kacke muss man dabei viel beachten! Help- ob ich das alles richtig mache ???) , Rafael hat sich einen Job gesucht, bei dem er reisen kann, dann haben wir monatelang die aktuelle Lage beobachtet, geplant, abgewägt, über den Haufen geworfen, neu geplant, sind ein bisschen verzweifelt, hatten ein paar schlaflose Nächte und auf einmal ging dann alles ganz schnell.

Ich habe mir die letzten Jahre oft gewünscht, ich könnte einfach anders ticken. Könnte damit glücklich werden, was sich die Gesellschaft von mir erhofft. Ich habe eingesehen, dass das nicht der Fall ist. Das ich nicht jeden Tag sagen möchte: „Man darf nicht meckern, wir haben es im vergleich zu vielen anderen nämlich verdammt gut!“ Das ist ein Satz, den so viele Menschen viel zu inflationär benutzen, oder? Warum wird denn meine Situation besser, wenn ich mich mit dem Unglück anderer Menschen vergleiche? Sollte mein Glück und meine Liebe für das Leben nicht ganz allein nur von mir abhängig sein? Natürlich könnte es uns viel schlechter treffen aber warum sollen wir denn nicht versuchen, nach all unseren Träumen zu streben? Das Leben ist kurz: also lass uns mutig sein!

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