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Die Zeit und das Pflichtbewusstsein

Wir lassen das Meer hinter uns und die Reise geht weiter. Ein ganzes Stück noch bleiben wir auf der großen Hauptstraße, genießen das Gefühl von Teer unter den vier Rädern. Viel zügiger kommen wir so voran. Währenddessen zieht die trockene Steppenlandschaft an uns vorbei, in der Ferne erhebt sich langsam ein Bergmassiv. Unser erstes Ziel des Tages kommt in Sicht.

Die Spitzkoppe ist kein klassischer Touristenmagnet. Sie liegt abseits der Hauptroute und ist so deutlich schwerer zu erreichen. Wer durch Namibia reisen möchte, muss sich an lange Strecken gewöhnen. Nicht selten hat man das Gefühl, sich verfahren zu haben, einfach, weil so lange keine Abzweigung kommt. Die Abschnitte sehen auf der Karte deutlich kürzer aus, Tankstellen sind eine Rarität. Wer also von Swakop aus auf dem Weg zu Etosha auch die Spitzkoppe mitnehmen möchte, der muss das gut planen um nicht durch die Dunkelheit zu fahren oder ohne Sprit dazustehen. Der Umweg allerdings lohnt sich. Finde ich.

Die Landschaft um das Gebirge herum ist karg. Gelbe Steppenfelder, kleine, knorrige Büsche. Keine Stadt weit und breit. Lange geht es über holprige Schotterpisten, vorbei an einem kleinen Dorf, in dem es sogar eine Schule gibt. Frauen verkaufen metallisch-schillernden Schmuck und Mobiles. Ziegen grasen die trockene Landschaft ab. Neugierige Kinderaugen beobachten die Fremden, die da über die notdürftige Straße holpern. Blicke treffen sich für Sekunden, verschiedene Welten, die sich so fern sind. Was der Andere denkt? Wie er heißt? Wie ist er hier her gekommen? Staub wirbelt unter den Rädern auf, es bleibt keine Zeit.

Meine Gedanken schweifen ab:

„Die Europäer haben die Uhren, die Afrikaner die Zeit.“ Das habe ich, als ich das erste Mal in Namibia war, öfter gehört. Ich habe mich gefragt, was es damit auf sich hat. Frisch aus der Schule, mitten im Studium, habe ich mein Leben als nicht besonders stressig wahrgenommen. Klar, das Abitur hat ein paar Nerven gekostet. Hier und da habe ich mich durch Praktika oder Klausuren etwas überfordert gefühlt. Aber das ist doch normal? So gehört sich das. Unsere Schule beginnt um 7.30. Wir lernen schon von klein auf, dass früh aufstehen ein wichtiger Faktor in unserem Leben ist. Wer früh aufsteht, hat sein Leben im Griff. Ausgeschlafen wird allenfalls am Wochenende, in den Ferien oder wenn man krank ist.

Nach der Schule warten Hausaufgaben oder Hobbies. Sport, Musik, Kultur. Freunde treffen, den Tag verplanen. Stillstand gibt es kaum. Erst Abends kommen wir langsam zur Ruhe. Dazwischen sind die Tage getaktet.

Nach dem Abitur starte ich in mein erstes, richtiges Praktikum. Stehe noch früher auf, pendele nach Frankfurt zur Arbeit. Komme spät abends zurück. Freunde und Eltern sind stolz, ich fühle mich irgendwann ausgebrannt. Die Arbeit ist schön, ich lerne viel. Komme gut mit den Kolleginnen und Kollegen klar, erlebe Höhen und Ernüchterung. Aber all die Fahrerei, der streng getaktete Tag und die wenigen Momente am Tag für mich zehren an mir. „So ist das jetzt wenn man Erwachsen ist.“, höre ich. Oft. „Das ist ganz normal.“ Oder „Da gewöhnst du dich dran.“

Dann folgt das Studium. Eine Atempause vor dem Ernst. Alkoholrausch, lange Nächte, wilde Parties. Dazwischen viel Kaffee, Lernen, Zukunftsängste. Fragen. Im Hinterkopf immer das Wissen: Da draußen wartet die Monotonie. Ich entscheide mich für mein nächstes Praktikum ins Ausland zu gehen. Schließlich macht man das auch so. Auslandserfahrung formt den Charakter habe ich irgendwo mal gelesen. Sieht gut in der Bewerbung aus. Außerdem will ich raus. Hab die Gesichter so satt, das Studium sowieso. Viel erwarte ich ehrlich gesagt nicht. 
Ich weiß ja schon, wie das Arbeitsleben tickt. Und wie ich so ticke. 

Der Redaktionsalltag allerdings in Windhoek ist anders. Begonnen wird, wenn eben die Arbeit beginnt. Feste Uhrzeiten gibt es nicht. Manchmal fällt das Internet aus, dann wird von zu Hause gearbeitet. Feierabend ist, wenn die Arbeit beendet ist. Wer zwischendrin nichts zu tun hat, sonnt sich, isst- atmet durch. Jeder hat seinen eigenen Verantwortungsbereich. Jeder ist dafür zuständig, dass seine eigene Arbeit erledigt wird. Auf einmal macht mir die Arbeit richtig Spaß. Ich hänge mich in die Vorbereitung meiner Sendung hinein, wir dürfen selbst moderieren. Wir produzieren sogar ein eigenes Hörspiel, sind länger auf der Arbeit als nötig. Ich sitze keine Zeit mehr ab, sondern beginne zu verstehen, was mich in Deutschland so blockiert hat. Ich dachte, dass ich einfach arbeitsfaul bin, aber darum geht es nicht. Was mich wirklich stört ist: Sinnlosigkeit. Zeit absitzen, weil das eben so muss. Viel zu krasse Strukturen, die längst veraltet sind. Falsches Pflichtbewusstsein. Sätze nach dem Motto: „Das ist eben so.“

Zurück in Deutschland tue ich mich unglaublich schwer. Auf einmal hinterfrage ich Dinge, die für mich früher klar waren. Hinterfrage Menschen, Verhaltensweisen. Mich selbst. Mein Leben. Werde unzufrieden, traurig, unruhig. Wütend. Ich weiß, dass in Namibia vieles nicht gut läuft, so wie es ist. Vieles zu langsam. Armut. Kriminalität. Ich bin nicht naiv. Aber ich weiß auch, dass ich dort ein Lebensgefühl kennen gelernt habe, das mir hier oft fehlt. Im Feierabendverkehr der Großstadt sehe ich in stumpfe Blicke. Über allem liegt die Schwere des Alltags. Ich will schreien, dass das doch nicht sein kann! Das wir doch dankbar sein sollten dafür, wie gut wir es hier eigentlich haben. Wir haben doch Regen und genug Wasser. Versicherungen und genug Arbeit. Wir verdienen Geld, leben in Häusern. Fahren Autos. Wir dürfen zur Schule und studieren. Warum sind wir denn nicht ein kleines bisschen glücklicher? Warum sitzen wir Zeit ab auf der Arbeit? Warum ist es „normal“ gestresst zu sein? Warum ist nur ein Frühaufsteher ein fleißiger Bürger? Warum muss Erwachsen sein bedeuten, dass ich ausbrenne? So viele Warums. Und die Antworten finde ich nicht.

Irgendwann bin ich wieder ein Teil des Ganzen. Pendele wieder, arbeite während dem Studium. Sitze Zeit ab an vielen verschiedenen Orten. Habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich ein paar Tage in einem Tief bin. Serien schaue, mich verkriechen möchte, eine Pause brauche. Weil man dann faul ist. Ich hinterfrage nicht mehr den Grund für das Handeln. Es bringt mir nichts.

Wir fahren durch ein großes Holztor. Über uns ragt das Bergmassiv der Spitzkoppe hoch. Mein Kopf lehnt am Fenster, die Augen sind noch schwer. Ich versuche die Gedanken der letzten Stunde festzuhalten. Überlege sie später nieder zu schreiben. Wenn ich sie etwas sortiert habe. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist das alles dumm. Ich weiß es nicht.

Wir passieren das Holztor, draußen ist nur noch Natur. Wir klettern über Steinfelder, der Wind zerrt an unseren Jacken. Die Stadt ist weit weg. Drei Erwachsene mit leuchtenden Augen. Wach. Da. Im Moment. Ich atme aus. Dann wieder ein. Und renne los.

Ein Kommentar

  • Anjuccia

    Mensch Hannah super! Du sagst plötzlich etwas aus, und hetzt nicht nur von einem Strand und einer Partymeile zur nächsten. Kann aber auch sein, dass ich schon länger nichts mehr gelesen habe.

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